EINBLICK IN DIE WELT DER NUDELN Eine Erzählung vom Streiken
Maria verabscheute Nudeln, Nudeln mit Tomatensoße, alle Arten Nudeln. Hasste, wie sich Nudeln auf penetrante Weise denen aufdrängten, die sich nichts anderes leisten konnten. Nudeln, die den Kindern jeden Montag auch in der Schulmensa zum Fraß vorgesetzt wurden, Montag der Nudeltag, so wie Freitag der Desserttag war, wie sie schon den Neunjährigen einbläuten, dass alles eine Reihenfolge hatte, das Süße nur nach fünf Tagen Plackerei eine Daseinsberechtigung haben durfte. Wie nur die Privilegierten Zucker fasteten, wie Maria über sie lachte. Sie spuckte den teigigen zerkauten Wulst aus Spaghetti Miracoli, der sich in ihrem Mund befand, auf die rotkarierte Tischdecke und dachte, disgusting.
Die rotkarierte Tischdecke lag da, um zu übertünchen, dass der hölzerne Tisch in der Küche Aschespuren hatte, Schrammen von Messern, weiße Farbreste auf ihm klebten. Sollte die kleine Mietwohnung aufmotzen, in der es unter der Spüle schimmelte und deren Tür nicht verschließbar war. Der rötliche Nudelkloß breitete sich auf dem Baumwollstoff aus, die weißen Quadrate färbten sich orange, es klebten rote Brocken darauf. Maria hielt inne und zündete sich eine Zigarette an. Normalerweise rauchte sie nicht in Innenräumen. Der Geruch, der sich penetrant in der Rauhfaser festsetze, und was sollte das Kind von ihr denken. Sie ließ es auch viel Trash TV sehen. Wenn dazu eine rauchende Mutter kam, wäre sein Klassenaufstieg noch versperrter. Rauchen war wie Zucker, aber anders cool.
Die Miracoli waren Marias Frühstück, sie hatte in der Nacht gearbeitet, das Kind war allein zur Schule aufgebrochen, sie waren sich noch im Treppenhaus begegnet, Maria mit den Augenringen, das Kind leuchtete in Neonfarben, und Maria meinte, Spuren vom Wimperntusche in seinem Gesicht zu entdecken. Vielleicht hatte sie im Dreischichtbetrieb übersehen, dass das Kind inzwischen eher ein Teenager war.
Sonne ging über einem Weizenfeld auf, der Schriftzug TEIGGELB waberte aus dem Getreidemeer. Der Bildschirm von Marias Telefon verzerrte sich gelblich. Ihr Arbeitgeber war ein Teigwarenproduzent, einer mit einer ostdeutschen, und einer westdeutschen Dependance. Sie arbeitete am ostdeutschen Fließband. Was hieß: weniger Lohn für die langen Eier Makkaroni, die Farfalle, die Spirelli. Produkte, die Maria in den Frühspätnachtschichten einen Wind von Italien ins Gesicht pusteten.
Maria hatte einmal mit ihrer eigenen Mutter eine Busfahrt nach Venedig unternommen, das war das einzige Mal gewesen, dass sie am Meer gewesen war. Eher am Brackwasser der Kanäle, aber das war ihr egal, Meer war Meer. Sie hatten Tauben am Markusplatz gefüttert. Maria erinnerte die verwackelten Fotografien in dem blauen Ringalbum, das irgendwo noch bei den Eltern liegen musste. Darauf sie selbst im gelben Anorak, darunter ein khakifarbenes Top mit weißem S.Oliver Schriftzug. Leichter Brustansatz, der erste, dazu eine Kappe. Die Mutter war in ihrem Gedächtnis auf keiner der Fotografien, hatte sie ausgelöst, und hatte Marias fast gleichaltrigem Bruder an der Promenade, von der die Busse abfuhren, ein gefälschtes Trikot von Inter Mailand gekauft. Maria hatte die Reste von Maiskörnern in ihrer Anoraktasche gespürt, als sie wartete, während die Mutter bezahlte. Auf der Rückfahrt im Reisebus war die Reiseleitung wieder zugestiegen, eine junge braungebrannte Frau mit dunkelbraunem hinten zusammengebundenen Haar. Ihre Mutter vermutete, die Reiseleiterin sei am Strand gewesen, während die Tagestouristinnen die Tauben vor dem Dom gemästet hatten. Die Mutter sagte es mit Anerkennung, oder vielleicht auch Neid in der Stimme, weil sich da eine ein Beach Life gönnte, Zeit für ein Beach Life hatte. Marias Mutter gönnte sich Bustouren, nach denen man übernächtigt und nach einem Cappuccino an einer der austauschbaren Autobahnraststätten morgens in norditalienische Städten angeschwemmt wurde, für einen Tag, der anders war als die unzähligen anderen in der Kleinstadt.
Nach den Miracoli hatte Maria geschlafen, einen tiefen traumlosen Schlaf, das Kind hatte sie am Nachmittag geweckt, sie hatten zusammen am rotkarierten Tisch zu Abend gegessen, sich einen Eimer Stracciatella Joghurt geteilt. Dann war Maria aufgebrochen, die Nachtschicht begann um zweiundzwanzig Uhr. Sie zog sich in der Umkleidekabine der Fabrik TEIGGELB, die am Rande der Stadt in einer Autohausgegend lag, das Haarnetz auf und verstaute ihre Frisur. Den weißen Kittel trug sie schon. Sie blickte in den Spiegel, wusch sich sorgfältig Hände und Arme und desinfizierte sie. Ihr Unterleib quoll leicht über den Gummibund der weißen Hose.
Als das Kind noch in Marias Bauch war, hatten sich Tauben in den Paletten auf dem Balkon zur Straße hin eingenistet. Fiete und Maria benutzten den kleinen Balkon nicht, beim Kaffee würden sie vom ersten Stock aus bloß den Feinstaub der Karl Marx Straße inhalieren, hätten sich anbrüllen müssen, wenn sie sich morgens überhaupt etwas zu sagen gehabt hätten, um den Straßenverkehr zu übertönen.
Maria hatte die Tauben gewähren, die Vögel zwei Eier legen lassen, und den Unterschlupf dann in einem Anfall von Tobsucht und Angst vor Krankheitserregern zwei Monate später im Mai abgerissen, den Vogelkot mit Wassereimern in weißgrauen Schlieren auf den Gehsteig geschwemmt. Die Vögel hatten sie irritiert angeblickt, hatten noch eine Zeitlang zu viert auf der Fensterbank gewohnt und waren dann umgezogen.
Wie Tauben ihr Gelege mit Stöckchen schützen, das Ei mit in der Stadt gefundenen Kaffeelöffeln oder Kabelbindern daran hinderten, wegzurollen, beruhigte Maria damals auf eine Weise. Auch ein Gelege, das von Kabelbindern zusammengehalten wurde, war noch ein Nest, wie die Wand im Zimmer ihres Kindes eine aus OSB Platten war, die Wände unverputzt, und die Möbel von Ebay Kleinanzeigen. Das Nest aus OSB - Platten und klemmender Haustür kostete Maria monatlich siebenhundert Euro warm, und sie dachte an Ulf, der interviewt von einem Team des regionalen Fernsehsenders gesagt hatte: er ginge nicht arbeiten, weil die Arbeit so schön wäre, sondern weil er ja leben müsste.
Leben müssen. Wie Maria den Hartweizengeruch kaum mehr ertragen hatte an den Nachmittagen, an denen die anderen Mütter aus der Kita nach dem Abholen in der Markthalle im Stadtzentrum saßen, Weißwein kippten und Pastateller für zwölf Euro orderten, während ihre Kinder sich am herumstehenden Holzspielzeug vergnügten. Es hieß dann Pasta, nicht Nudeln. Maria verdammte Pasta und Wein nicht eigentlich, ihr Stundenlohn lag aber knapp unter dem Pastaportionspreis, und ihr Fahrradweg mit dem Kind nach Hause in die Vorstadt stand ihr jedes dieser Male noch bevor. Sie konnte nur so viel Weißwein kippen, dass sie noch die dreißig Minuten Weg mit Kind auf dem SItz an der zweispurigen Ausfallstraße nach Hause packte, weil sie kein Altbaunest in der Innenstadt bewohnten. Keines von denen mit Stuck an der Decke und Dielenböden als Unterlage für die Eier.
Ulf hatte sie mit zum neu gegründeten Betriebsrat genommen. Eine westdeutsche Firma hatte TEIGGELB nach der Wende aufgekauft, die Schwesterfirma im Schwäbischen kannte die Idee von Mitarbeitermitbestimmung nicht, hatte dafür ein Nudelerlebniskonzept und eine gläserne Produktion. Maria hätte keine Lust, sich bei ihrer Arbeit samstags auch noch von glücklichen Kleinfamilien auf Wochenendausflügen zuschauen zu lassen. Wer von seiner Arbeit nicht mehr leben konnte, würde nicht mehr zur Arbeit kommen, da war sie Ulfs Meinung. Sie hatten einen Tarifvertrag gefordert. Ulf war sehr aufgeregt gewesen, er war jetzt sechsundfünfzig, er hatte kaum noch Haare und hatte noch nie gestreikt. Das taten sie dann, fünf Wochen lang, sodass die Lagerbestände bei TEIGGELB sich leerten und in den Supermärkten der Umgebung keine Spaghetti mehr zu finden waren. Die Produktion war still gestanden. Manche von ihnen hatten zum ersten Mal Transparente gemalt. NUDELN KOCHEN NICHT VON ALLEIN/ FAIRE LÖHNE MÜSSEN SEIN, stand auf ihnen, oder MIT VOLLER NUDELKRAFT ZUM TARIFVERTRAG. Maria amüsierten die Sprüche, sie hatte sie auch auf dem Marktplatz gebrüllt, die Tauben aufgescheucht, aber sie seufzte angesichts der geforderten zwei Euro mehr in der Stunde. Zwei Euro, das war eine Packung Vogelfutter auf dem Markusplatz.
Sie spuckte aus, knapp am Nudelwolf vorbei, und begann zu murmeln NIE WIEDER NUDELN. NIE, NIE, NIE WIEDER NUDELN. Wie sie Nudeln hasste, Weizen, immer nur Weizen, wie der Weizen schon selbstgefällig vor der Ernte in Reih und Glied auf dem Feld stand, wie ein Huhn generös ein Ei dazulegte, Ei auf Mehl, wie der Mehlhaufen im Werbespot von TEIGGELB leuchtete wie ein verheißungsvoller Haufen Kokain, wie Nudeln eine verdammt dialektische Sache waren. Kohlenhydrate zwar, aber Banalität ohne Ballaststoffe, Pasta aglio e olio nur für die, die nicht zu müde zum Einkaufen waren, und das war Maria die meiste Zeit. Die letzten beiden Kanister Olivenöl hatte sie an der Selfcheckout Kasse von Netto gestohlen, oder Ulf hatte ihr einen Zehner zugesteckt, er hatte keine Kinder, und meinte es gut. Ulf hatte als Betriebsratsvorsitzender vier Wochen Hausverbot bei TEIGGELB bekommen, warum wusste keiner so genau, nach vier Wochen war er zurück gewesen.
Die Belegschaft hatte zusammen einen Reisebus gechartert und war losgefahren, losgefahren in die südwestdeutsche Provinz, um bei der Schwesterfirma, am Firmensitz, auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Maria hatte Sekt getrunken aus kleinen grünen Pikkoloflaschen, sie hatte ihren Kopf auf Ellens Schulter gelegt, war während der Fahrt im Bus kurz eingenickt. Ellen hatte sie vorsichtig geweckt, als noch auf der Strecke die Information zu ihnen gelangte, TEIGGELB sei auf ihre Forderungen eingegangen, weil TEIGGELB verhindern wollte, dass ein Haufen ostdeutscher Irrer auf dem Nudelerlebnishof Parolen brüllte. Zur gläsernen Produktion passte kein sichtbarer Streik, ein Ausflügler soll von Protestierenden verschont bleiben.
Maria und die Belegschaft steuerten mit dem Bus eine Jugendherberge an und feierten euphorisch ihren Gewinn. Maria trank noch mehr Sekt und teilte sich mit Ellen die untere Matratze eines Doppelstockbetts, so wie sie sich die Zigaretten in ihren Pausen während der Schichten teilten. Im Winter waren das die einzigen Momente mit Tageslicht, die einzige Gelegenheit, dem Neonlicht der Fabrikhalle für zwei oder drei Züge zu entkommen.
Am Morgen waren alle verkatert aufgewacht, auf der Rückfahrt waren sie stiller gewesen, verhaltener. Ulf klebte an der Fensterscheibe und schlief, die Brille hing ihm leicht schräg auf der Nase, sein Mund stand leicht offen. Zuhause standen die leeren TEIGGELB Kartons, die bald wieder voll werden würden. Jetzt würde Maria etwas mehr Geld haben, an diesem verdammten Nudelwolf würde sie morgen aber immer noch stehen, ihr Kind ließ sich auch nicht so mirnichtsdirnichts outsourcen, das waren ja Gegebenheiten.
Das Kind wünschte sich, dass sie ein Auto hätten. Marias Kind meinte, es sei cool, mit dem Auto in die Schule gebracht zu werden. Limousinenhaft vorgefahren werden. Maria rechnete. Wahrscheinlich hätten sie sich einen kleinen Fiat leisten können, aber Maria waren auch Autos zuwider. Sie genoss die Tramfahrt ins Industriegebiet, es waren zweimal fünfzehn Minuten am Tag, in denen niemand etwas von ihr wollte. Im Winter beschlugen die Scheiben neben den Fahrgästen in ihren Wintermänteln, im Sommer saß Maria zwischen bunten Tops und Sandalen in der Schwüle, Schweißperlen auf ihrer Oberlippe und der Stirn, die Maria dann mit dem Handrücken wegwischte. Das Fabrikgebäude von innen war weiß, kühl und aus Edelstahl. Ein Ort nicht für Menschen, eintönig waren die gekachelten hellen Flure den Augen. Hatte Maria Frühschicht, begannen ihre Tage an der Eieraufschlagmaschine. Die roten Paletten mit abertausenden Eiern zur Maschine schieben, dann die Paletten auf ein Transportband stellen. Dann übernahm die Maschine: Ein Vakuumsauger holt sich die Eier und befördert sie zum Mühlrad. Kein Mühlrad, eher ein Eierkarussell, das Herzstück der Anlage, so steht es auf der TEIGGELB Homepage.
Maria mochte das Eierschreddern, vierundfünfzigtausend Eier in der Stunde schaffte der Automat. Die Arbeit war an einem Vormittag getan. Die kleinen Messer, die sich in die Eierschalen gruben schnell und geschützt hinter Stahl. Maria konnte sich nur vorstellen, was in der Maschine innen geschah. Sie kannte das Mühlrad, seine Rillen und Klingen, vor allem vom Putzen seiner Innereien danach. Die Maschinenteile bedeckt mit weißem Reinigungsschaum aus einer Spritzpistole, und Eierschalen, Massen leerer Eierschalen - das war es, was Maria in den Frühschichten vor allem zu Gesicht bekam. Der Schaum hatte die Konsistenz aus dem Feuerlöscher und griff auch unter den hellblauen Handschuhen, die sie alle trugen, die Hautoberflächen an.
Beim Putzen versuchte Maria nachzudenken, die Edelstahlflächen waren endlos. Während das Metall anfing zu glänzen, wurde Marias Kopf an diesen Vormittagen immer stumpfer. Maria hatte den Job bei TEIGGELB wegen ihrer Bereitschaft zur Schichtarbeit bekommen, nach ihrer Qualifikation hatte sie keiner gefragt. In der Anzeige wurde mit einem Kollegenteam mit einer Leidenschaft für feine Nudelspezialitäten geworben.
Ellen war zehn Jahre älter, und hatte Maria eingearbeitet. Desinfektion, Abklatschtest, Arbeitsschutz. Ellen hatte eine Leidenschaft für Yoga und für Zigaretten, von Nudeln hielt sie auch nicht mehr als Maria, sie kaufte im Fabrikshop, was sie Zuhause verbrauchte. Ellen war ein Mensch unter den Kollegen, die sonst wie weiße Gespenster in Schutzkleidung an den Maschinen entlang Rollbehälter schoben oder mit Elektrohubwagen hantierten und ihr manchmal im Vorbeigehen missmutig zunickten. Ellen hingegen testete die Qualität der Eiermasse in den Wannen, als ob sie eine Schwangerschaft feststellen wollte. Das Teststäbchen war rot und hatte einen Deckel, ähnlich eines Aufbewahrungsbehälters für Kontaktlinsen. Schwanger war niemand. Fiete hatte Maria gesagt, sie bekäme im Alltag deutlich mehr gebacken als er, das würde er zugeben, Unterhalt für das Kind hatte Fiete Maria trotzdem, oder deswegen, nie gezahlt.
In den Pausen auf dem Hof hatte Maria die Mitarbeiter aus den hohen Silos kennengelernt. Auch die trugen die hellblauen Handschuhe aus Kunststoff. Bei der Anlieferung von neuem Getreide kam Leben auf das Gelände, Lastwagen und laute Stimmen über dem dunklen Asphalt, darauf verteilt die Raucherinseln, gläserne Häuschen zum darunter Stehen. Dann wieder Kühle und Dunkelheit, das Leuchten der Touchpads, wenn Maria Ulf an seinem Arbeitsplatz im Silo besuchte. Körperlich müde machte die Arbeit nicht immer, nur müde im Hirn. Fühlte sich an wie eine Dauerschleife aus Eiern und weißem Schaum hinterher, bis am Ende alles silbern funkelte.
Die Spiegel Zuhause ließ Maria fettig, ließ die Mascaraflecken und Zahnpastaspritzern an den Rändern kleben. Sie mochte das Layout der Streikbroschüren nicht. Für Ulf hatte sie die Hefte mit in die Frauenumkleiden genommen und verteilt, Broschüren mit Überschriften wie “STREIKEN IST UNSER GUTES RECHT”. In violettem Lila war das Papier gehalten, wie die Flyer, die in Arztpraxen lagen, nur dass statt Medikamenten Sabotage nahegelegt wurde, und das absichtliche Verlängern der Mittagspausen. Im Pausenverlängern war Maria gut, die Broschüre war trotzdem grafisch misslungen, sie hatte nicht geglaubt, dass viele ihrer Kolleginnen etwas in die Hand nehmen würden, das nach Jugendzentrum und Punkkonzert aussah. Gestreikt hatten sie trotzdem, weil Ellen oft schwindelig war durch die Zusatzschichten, und weil alle mehr Geld brauchten. Sie hatten die Mittagspausen bei den Silos für erste Proteste genutzt. Ulf hatte Maria vorgelesen, neben der Bluetoothbox, wo die anderen tanzten, erst verlegen, dann euphorischer neben dem Verdi - Pavillon. Hatte ein abgegriffenes Buch aufgeschlagen und vorgelesen:
Trotz meiner Ängste bin ich glücklich, dem Betrieb dankbar wie eine endlich untergeschlüpfte Erwerbslose.
Maria hatte gut zuhören müssen, weil nebenher Schlager liefen, dann Rapmusik und war sich nicht sicher. Dankbar war sie nicht in dem Sinne. Maria wollte ihrem Kind die Streifzüge durch die Mall finanzieren können, die Mall an der S - Bahnstation, manchmal dort einen Bubbletea Pfirsich Apfel, den das Kind oft hinter dem Fotoautomaten wegschüttete, es ging nämlich nur um den Drink in der Hand, den Look, wie das aussah, so zu schlendern mit einem Getränk, und wäre es auch noch so ungenießbar.
Dankbar nicht, aber untergeschlüpft war Maria bei TEIGGELB, untergeschlüpft in einem Teigwarenbetrieb, bei Ellen, bei Ulf, aber wie sah dieses Unterschlüpfen anderer Leute in Arbeit aus, überlegte Maria. Bei der Pediküre in einem vietnamesischen Nagelstudio verglich sie den Hornhauthobel der Angestellten an ihrer Ferse mit einer der Teigpressen, mit den Messern, die die Nudeln einzeln abtrennten, ihrem eigenen Werkzeug, das sie per Knopf bediente. Auf Ellens Bildschirm hatte Maria einmal im Onlinestream einen jungen Mann gesehen, der in einem Raum ohne Fenster unter einer grellen Neonlichtröhre auf einem braunen Teppich Yoga unterrichtete und in die schwarzen Screens der Teilnehmerinnen starren musste, und von diesen zurück betrachtet wurde. Von draußen war da in seinem Raum durch den Computerlautsprecher Verkehrslärm zu hören. Wie eine Freundin von Maria aus der Innenstadt, die beim Fernsehen arbeitete, ihr erzählte, dass sie eine Vorabend - Gefängnisserie in einem echten Gefängnis gedreht hatten. Die Insassen waren während der Dreharbeiten im Gefängnishof spazieren gegangen. Wie Maria bemerkte, dass im Imagefilm der Nudelfabrik selten ein Mensch vorkam, nur die silbernen Maschinenungetüme, und Massen an Nudelteig, dazu manchmal ein anonymes Gespenst.
An einem Sommerferientag waren Maria und das Kind draußen, Urlaub hieß Wellenbad. Das Wellenbad war heruntergekommen und befand sich am Rand der Stadt, an der Ausfallstraße. Es war zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar, Maria und das Kind gehörten dorthin, seit das Kind klein war. Schwimmen gelernt hatte es in einem Winter in einem Schwimmhallenprovisorium, etwas das ein mit Wasser gefüllter Überseecontainer mit Fenstern war, und in dem man dreizehn Meter lange Bahnen ziehen konnte, dann aber umkehren musste.
Die Umkleide des Wellenbades hatte eine hohe Decke aus Holz, darunter viel Luft und in den hellgelben Mauern für den Sichtschutz waren gegen die Vögel, die hineinfliegen könnten, dicht nebeneinander kleine Metallstäbe, lange Nägel mit der Spitze nach oben, betoniert. Am Beckenrand lagen Eisverpackungen und ein abgefallenes Pflaster auf den Steinen unter einer Bank. Die Wellenmaschine wurde zu jeder vollen Stunde gestartet. Maria und das Kind fassten sich an den Händen, im Wasser war das nicht sichtbar, also nicht peinlich. Bewegten sich auf und ab wie in einem weniger schweren Ballett. Unter Wasser war Maria leichter. Auf den Handtüchern ausgestreckt in der Sonne, war Maria im Kopf beim Teig. Sie würde ihn in der Nacht ab zweiundzwanzig Uhr bei der Trocknung begleiten. Eine riesige flache Teigplatte würde sich wie ein Strandlaken über die Walzen schwingen, vortrocknen und dann mit einem anderen Apparat in Stücke geschnitten werden. Maria würde alles mit Abstand beobachten, steuern, schließlich verpacken. Sie würde sich nach um Ellen kümmern.
Im Wellenbad zieht eine Regenfront auf. Maria und das Kind suchen einen trockenen Platz unter dem Vordach des Freibadbistros. Auf den Unterarmen des Kindes ist Gänsehaut, sein Nacken ragt gebräunt aus dem weißen T-Shirt. Die nassen Haare haben beide nach hinten zusammengebunden. Sie sitzen. Sehen manchmal ins Grau. Maria bestellt Datsch für sie beide, Schrippe mit Schaumkuss innen zerdrückt, Eierschaum also, und Aperol, wegen diesem Italien. Maria friert, und bindet ihr Handtuch enger.
Der hier vorliegende Textauszug nimmt Bezug auf einen tatsächlichen Streik bei der Firma Teigwaren Riesa im Jahr 2022.